Am Weg in die Silver Society. Der demographische Wandel als Marketingchance?

Nach einer Prognose des Statistischen Zentralamts werden bis 2040 bereits 26,3% der österr. Bevölkerung über 65 Jahre alt sein. Aus heutiger Sicht sind sie damit die am stärksten wachsende Bevölkerungsgruppe. Was das Sozialversicherungs-System zum Stöhnen bringt, lässt im Marketing Jubelstimmung aufkommen. 2,49 Millionen Verbraucher - konsumfreudig, onlineaffin, qualitätsorientiert, neugierig und kaufkräftig - werden bereit sein, Gesundheitsartikel, Weltreisen, Sportbekleidung, Sportausrüstung, Kosmetikprodukte, gesundes Essen und Nahrungsergänzungsmittel zu kaufen – so die Prognosen.

Nach einem ersten Boom in den 2010er Jahren macht sich aber Ernüchterung in vielen Marketing-Abteilungen breit. Die Best Ager, Silver Surfer, Golden Ager oder Forever Youngsters werfen genauso viele Fragen auf, wie sie Namen haben. Dachte man früher an eine große homogene Gruppe der Senioren, so zeigt sich mehr und mehr ein äußerst heterogenes Bild mit vielen unterschiedlichen Motiven, Bedürfnissen und Erwartungen.

Wir haben gemeinsam mit dem Psychologen Dr. Walter Hoffmann, Gründer und Besitzer des Instituts für Angewandte Tiefenpsychologie in Wien, hinter den Megatrend Silver Society geschaut und erfahren, dass das Marketing für diese Zielgruppe auf vielen Annahmen fußt.

Dr. Walter Hoffmann, Gründer und Besitzer des Instituts für Angewandte Tiefenpsychologie in Wien

Unser Bild von der Realität ist eine Konstruktion unseres Gehirns.”

Dr. Walter Hoffmann

studierte Psychologie, Psychiatrie und Psychopathologie in Wien und Salzburg. Er ist Psychoanalytiker, Klinischer Psychologe sowie Gesundheits-, Wirtschafts- und Arbeitspsychologe. Er leitet das Institut für Angewandte Tiefenpsychologie in Wien, ist Publizist und Autor mehrerer erfolgreicher Sachbücher.

Hubble: Herr Dr. Hoffmann, aus psychologischer Betrachtung – was ist Alter eigentlich?

Dr. Hoffmann: Alter ist zunächst eine Zustandsbeschreibung. Beim Menschen ist damit der Abschnitt beginnend mit der Lebensmitte bis zum Tod gemeint.

Hubble: Die Zielgruppe 65+ erhält in der Marketing-Literatur ganz viele Namen und Bezeichnungen. Sie haben zahlreiche Studien gemacht und mit vielen Menschen in dieser Altersgruppe gesprochen. Gibt es einen Begriff, der für Sie am treffendsten diese Zielgruppe charakterisiert und warum?

Dr. Hoffmann: Studien wollen auf sich aufmerksam machen, zitiert und verkauft werden. Knackige Titel und der Anschein, etwas Neues entdeckt zu haben, sollen dabei helfen. Das gilt auch für viele Marketing-Studien zur Generation 65+. Die meisten dieser Bezeichnungen zielen darauf ab, die unlustvollen, beschwerlichen, angstmachenden Seiten des Alterns zu verleugnen. Keine dieser Bezeichnungen wird der Realität älterer und alter Menschen gerecht. Der Alterungsprozess verläuft höchst unterschiedlich und hängt von mehreren Faktoren ab, den Genen, der Psyche, dem Lebensstil. Keinesfalls handelt es sich bei den Über65jährigen um eine homogene Zielgruppe.

Hubble: Wir haben uns ja bei einem gemeinsamen Marken-Positionierungs-Projekt für ein Immobilien Startup kennengelernt, das ein Angebot für die Zielgruppe 65+ am Markt platziert hat – und dies seither erfolgreich betreibt. Sie haben uns damals aufgezeigt, dass der Altersprozess die Biologie des Menschen so verändert, dass sich damit auch Wünsche und Sehnsüchte verschieben. Was passiert mit dem Körper, wenn er altert?

Dr. Hoffmann: Tatsächlich entsprechen viele Eigenschaften, die alten Menschen zugeschrieben werden, mehr der Fantasie der Werber als der Realität, was sich anhand der Fakten leicht beweisen lässt. In der Evolution geht es um die Fortpflanzung. Biologische Organismen sind nichts anderes als Überlebensvehikel der Gene. Nach Weitergabe der Gene haben sie ihre Funktion erfüllt. Für ihre weitere Existenz besteht kein Bedarf. Daher setzt nach der Fortpflanzungsperiode, beim Menschen um die 30J, der Alterungsprozess ein. Der Wassergehalt im Körper sinkt, die Elastizität der Haut (erste Falten), Augenlinsen, Knorpel, Bandscheiben, sowie die kognitiven Fähigkeiten, lassen nach.

Mit fortschreitendem Alterungsprozess kommt es bei beiden Geschlechtern zu einer Reduktion oder gänzlichem Verlust der Libido (bei Frauen meist abrupt nach der Menopause, bei Männern fließend mit Auswirkungen auf die Erektionsfähigkeit).

Wie französische und amerikanische Forscher nachgewiesen haben, verliert das Glückshormon „Dopamin“ mit zunehmendem Alter seine Wirkung. Ältere Probanden (Durchschnittsalter 65) zeigten angesichts einer in Aussicht gestellten finanziellen Belohnung eine signifikant geringere neuronale Aktivität als jüngere (Durchschnittsalter 25).

Weil die Erregbarkeit des Belohnungszentrums im Zuge des Alterungsprozesses abnimmt, haben ältere Menschen nicht nur weniger Wünsche, sondern das Wünschen verliert auch an Intensität. Gleichzeitig steigt der Anteil der Depressionen. Mit dem Alter werden Frauen und Männer unsicherer, ängstlicher, fühlen sich leichter überfordert und trauen sich weniger zu. Die kognitiven Fähigkeiten, allen voran das Gedächtnis, verschlechtern sich. Schleichend nimmt die degenerative Demenz ihren Lauf.

Im Alter ändert sich die Belohnung im Gehirn. Sinnvolles Marketing sollte auf gängige Klischees verzichten und die Sorgen, Bedürfnisse, vor allem aber auch die Möglichkeiten von alternden Menschen in seine Überlegungen einbeziehen.

Da das Immunsystem ebenfalls einem Alterungsprozess unterliegt sind Menschen im höheren Alter nicht nur für Infektionen anfälliger, es steigt auch das Risiko für bösartige Erkrankungen. Bei Über60jährigen liegt die Wahrscheinlichkeit, innerhalb von fünf Jahren an einer der zehn häufigsten Krebsformen zu erkranken, bereits bei mehr als 20 Prozent (Robert Koch Institut). Rund die Hälfte der an Krebs erkrankten Menschen ist über 65 Jahre alt. Arthrose, rheumatischen Gelenk- und Muskelerkrankungen und Osteoporose sind ebenfalls altersabhängig. Nicht zuletzt die Herz-Kreislauf-Erkrankungen, an denen ab 65 mehr als 50% der Menschen leiden. Ab 70 sind sogar 57,5% von Herzkreislauferkrankungen betroffen - in Österreich die Haupttodesursache. Natürlich erhöht eine ungesunde Lebensführung, Nikotin, Alkohol, Übergewicht, schlechte Ernährung, zu wenig Bewegung, das Krankheitsrisiko.

Hubble: Das klingt ja nach allem anderen, als nach einer Zukunftszielgruppe für Lifestyle-Produkte. Übermotivierte Senioren, die lachend und springend und dabei modisch gekleidet durch die Werbewelt tanzen, scheint es in der Realität kaum zu geben. Wovon sprechen wir, wenn wir von Bedürfnissen und Erwartungen der Best Agers sprechen?

Dr. Hoffmann: Angesichts der Sachlage kommt man zwangsläufig zum Schluss, dass die Bilder, die Werber im Kopf haben, wenn sie von „Best Agern“, „Generation Gold“, „Silver Agern“, „Golden Agern“, sprechen, mehr dem Wunschdenken als der Realität entsprechen.

Die Bedürfnisse alternder oder alter Menschen differieren abhängig vom Gesundheitszustand und der Fitness. Im Vordergrund steht der Wunsch nach einem ruhigen, sicheren, unbeschwerlichen Leben. Mit dem Alter steigt natürlich das Interesse an Gesundheitsthemen und den Möglichkeiten, den Alterungsprozess hinauszuzögern. Nachdem das Bedürfnis nach Außenkontakten abnimmt, kommt auch der Unterhaltungselektronik (Fernsehen, Computer, E-Mail) größere Bedeutung zu. In Zukunft werden intelligente Maschinen, die alten Menschen das Leben erleichtern, vielleicht auch unterhaltsamer machen, vermehrt eine Rolle spielen. Reisen sind von Interesse, wobei organisierte, geführte Reisen bevorzugt werden.

Im Großen und Ganzen sind alte Menschen (unabhängig von der schwächeren Kaufkraft) generell weniger am Konsum interessiert als das Marketing annimmt. Viele, vor allem Frauen, bevorzugen Sparformen, um ihren Kindern und Enkelkindern etwas zu hinterlassen.

Hubble: Laut des letzten Best Ager-Reports, bei dem 1525 Menschen zwischen 50 bis 79 Jahre befragt wurden, fühlen sich Senioren im Schnitt um 10 Jahre jünger als sie sind. Alt ist man ihrer Meinung nach ab 75. Entspricht das auch ihren Studienerkenntnissen? Was muss zukunftsgerichtetes Marketing verstehen, wenn es diese Zielgruppe relevant ansprechen möchte? Wir finden es nicht zielführend, Menschen in ihren 50ern gemeinsam mit Menschen in ihren 70ern in einer gemeinsamen Betrachtung zu integrieren – wie stehen sie zu diesen großen Altersbreaks, die der Terminus Best Ager nutzt?

Dr. Hoffmann: Es liegt auf der Hand, dass die 50 bis 79jährigen keine homogene Gruppe sind und daher auch differenziert betrachtet werden müssen. Tatsächlich weicht das subjektive Altersempfinden bei den meisten deutlich vom biologischen Alter ab. Hier spielt die narzisstische Kränkung, die mit dem Altern einhergeht und die daraus resultierende Realitätsverleugnung natürlich eine große Rolle. Mit dem morgendlichen Blick in den Spiegel holt uns die Realität dann aber wieder ein. 

Abgesehen vom subjektiven Altersempfinden hängt die tatsächliche Fitness im Alter hauptsächlich von den Genen und vom gesunden Lebenswandel ab, der wiederum stark bildungs- und einkommensabhängig ist. Eine Umfrage von Statista zeigt einen linearen Zusammenhang zwischen Einkommen und Gesundheitsbewusstsein. Wie sehr das Gesundheitsbewusstsein vom Bildungsniveau abhängt, belegen auch unsere Studien.

Sinnvolles Marketing sollte auf gängige Klischees verzichten und die Sorgen, Bedürfnisse, vor allem aber auch die Möglichkeiten von alternden Menschen in seine Überlegungen einbeziehen. Laut Statistik Austria beträgt die durchschnittliche Alterspension (14mal /Jahr) bei Frauen € 1.219,- brutto und bei Männern € 2.104,- brutto. Damit lassen sich keine so großen Sprünge machen, wie Marketingexperten und Werber mutmaßen. Von den alleinlebenden Pensionsbezieherinnen, die durchschnittlich länger leben als männliche Pensionisten, sind 39% armutsgefährdet.

In den Bildern von hüpfenden, tanzenden Senioren, die es, wie die Jungen, so richtig krachen lassen, finden sich mit Sicherheit nur wenige alte Menschen wieder.

Alte „alsobjung“ darzustellen, entbehrt angesichts der realen Gegebenheiten nicht eines gewissen Zynismus.

Hubble: Das allgemeine Narrativ ist, dass der Alterungsprozess der Menschen immer später einsetzt. Trendforscher unterstreichen in ihren Publikationen, dass die Silver-Society aktiver, fitter und lebenslustiger ist als die Generation vor ihnen. Teilen Sie diese Beobachtungen? Werden Bedürfnisse dieser Zielgruppen im Marketing richtig erkannt und adressiert?

Dr. Hoffmann: Die Evolution verläuft nicht so schnell wie gängige Narrative. Der biologische Alterungsprozess setzt nach wie vor um die 30 mit den oben angeführten Konsequenzen ein. Mit dem späteren Gebäralter von Frauen wird es, was das Altern betrifft, in Zukunft auch auf der biologischen Ebene Verschiebungen geben. Es ist unbestritten, dass ein Teil der alternden Menschen heute „fitter“ ist als früher, aber das hat mit der gesünderen Lebensführung zu tun und nicht mit dem biologischen Alterungsprozess.

Zu keiner Zeit war die Kluft zwischen Jungen und Alten größer als heute. Die Rasanz technischer Innovationen, die Informations- und Wissensexplosion führen dazu, dass alte Menschen kaum noch Schritt halten können.

Hubble: Wir haben kürzlich ein Interview von Prof. Lehhofer, Leiter der Neuropsychiatrie am LKH Graz, gelesen, der zum Thema Altersweisheit folgendes sagte: „Sie sind frei von Zwängen und Abhängigkeiten. Den Anspruch, immer noch etwas werden zu wollen, etwas beweisen zu wollen, haben sie abgelegt. Sie sind einfach, das Sein bestimmt sie.“ Teilen Sie diese Erkenntnis und wenn ja, wie prägt diese Altersweisheit das Konsumverhalten und Konsumentscheidungen?

Dr. Hoffmann: Altersweisheit ist ein tröstlicher Begriff. Angesichts der sich schnell ändernden Welt stellt sich aber doch die Frage, welche „Weisheiten“ alter Menschen, die im Kontext ihrer Zeit entstanden sind, für junge Menschen heute noch Relevanz besitzen. Zu keiner Zeit war die Kluft zwischen Jungen und Alten größer als heute. Die Rasanz technischer Innovationen, die Informations- und Wissensexplosion führen dazu, dass alte Menschen kaum noch Schritt halten können. Selbst Lebenserfahrungen verlieren bei dem Tempo, mit dem sich der Wandel vollzieht, ihre Gültigkeit. Auch wenn die Bezeichnung „Altersweisheit“ schmeichelhaft ist, bevorzuge ich „Abgeklärtheit“, weil ab einem gewissen Alter die großen Lebensentscheidungen schon gefallen sind. Ich glaube nicht, dass Menschen im Alter frei von Zwängen und Abhängigkeiten sind. Das ist eine sehr romantisierende Vorstellung. Ich denke, dass das Gegenteil der Fall ist. Es fällt zwar der Arbeitszwang weg, aber der Unterstützungsbedarf und damit auch die Abhängigkeit, nehmen mit dem Alter zu.

Nicht die Altersweisheit, sondern die „Wunschlosigkeit“ im Alter und die Bereitschaft, den Kindern und Enkelkindern etwas zu hinterlassen, wirken sich auf das Konsumverhalten aus. Alte begehren und konsumieren weniger. Abgesehen von den Einkommensstarken, geben sie ihr Geld hauptsächlich für Produkte aus, die sie brauchen.

Hubble: Unsere Unterhaltung drehte sich bisher sehr stark um den Best Ager als Verbraucher und Konsument. Wir leben in einer Zeit der Sinn-Ökonomie. Immer mehr Menschen suchen das Sinnstiftende in ihrem Beruf- und Privatleben. Wie sieht das bei älteren Menschen aus? Ist es älteren Menschen wichtig, auch nach dem Arbeitsleben etwas zu tun, das sie mit Sinn erfüll? Möchten Senioren die Gesellschaft, ihr Umfeld noch positiv mitgestalten? Oder denken Sie: hinter mir die Sintflut bzw. ich habe bereits genug gemacht? Was stiftet in dieser Lebensphase Sinn (individuelle Zugänge abgesehen)?

Dr. Hoffmann: Was ist der Sinn des Lebens? Aus evolutionärer Sicht geht es ausschließlich um die Fortpflanzung. Wenn es a priori keinen anderen Sinn gibt, müssen wir unserem Leben selbst einen Sinn geben. Die Bewertung, was als sinnvoll empfunden wird und was nicht, ist höchst subjektiv und variiert. Mit dem Alter wird das Begehren schwächer. Im Alltag alter Menschen macht sich das in Form von wachsendem Desinteresse und Motivationsverlust bemerkbar. Die emotionalen Besetzungen werden schwächer. Auch das Interesse an neuen zwischenmenschlichen Kontakten schwindet allmählich. Für viele Senioren zählt nur mehr, einigermaßen gesund über die Runden zu kommen und ein ruhiges, belastungsfreies Leben führen zu können.

Hubble: Basierend auf Ihren Erfahrungen: Wenn Unternehmen die Zielgruppe der Best Ager erschließen wollen - was würden Sie diesen raten, wie man am besten vorgeht. Welche Art von Kunden- und Konsumentenverständnis ist hilfreich als Ausgangspunkt?

Dr. Hoffmann: Als erstes sollte auf die Bezeichnung „Best Ager“ verzichtet werden. Solche Bezeichnungen sind angesichts der tatsächlichen Lebensumstände alter Menschen peinlich. Es gibt auch keine homogene Gruppe die sich unter dem Titel „Best Ager“ zusammenfassen ließe. Es wird hier ein von Werbern kreiertes Bild auf alte Menschen projiziert, in dem sich die Mehrheit dieser Gruppe nicht wiederfindet und vermutlich auch nicht ernst genommen fühlt. Was das Kunden- und Konsumentenverständnis betrifft, würde gerade in diesem Kontext Marketing und Werbung etwas mehr Ehrlichkeit und Realitätsanerkennung nicht schlecht anstehen. Darauf zu hoffen, dass sich Senioren als neues, kaufkräftiges Kundensegment erweisen, ist aus meiner Sicht eine Illusion.

  

 


Bild: Christian Bowen Unsplash